Geschichte mit GPS
„Ein anderer Krieg“ von Dan Diner.
Diese Erzählung ergänzt meine Schulkenntnisse über den Zweiten Weltkrieg ganz wesentlich. Eigentlich Teil 2 des Grossen Krieges (im englischen Sprachbereich steht Great War allerdings nur für den ersten Teil), der Wirkung von Teil 1 ist. Kein 2.Weltkrieg ohne den 1., mindestens 80 Millionen Tote insgesamt.
Dem Bekannten fügt Diner in besonders prägnanter Semantik und aufwendiger Syntax in Form einer mehr räumlich gebauten Erzählung Ereignisstränge hinzu, die diesem Epochenereignis eine blickerweiternde Plastizität verleihen. Historiografisch bedingte chronografische Abfolge der Ereignisse ergänzt Diner mit geografischen Schauplätzen.
Kernzeit dieses „anderen Kriegs“sind die Jahre von 1935 (Abessinienkrieg mit dem Agressor Italien, Mitglied der „Achse“) -1942 (Niederlage der Deutschen in El Alamein und in Stalingrad, August 1942-Februar 1943). Abessinien unter italienischer Kontrolle gefährdet die Position des britischen mare nostrum, des zur britischen Kronkolonie Indien gehörenden Indischen Ozeans an dessen westlicher Küste und am Zu- und Ausgang des Suezkanals über das Rote Meer. Der hohe Anteil an Muslimen in Indien und die muslimischen Mehrheitsbevölkerungen von Zentralasien, Mittlerem Osten bis Afrika, also teils de iure, teils de facto im damaligen Herrschafts-, mindestens Einflußbereich des Vereinigten Königreichs, zwangen den Briten so viel Rücksichtnahme auf muslimische Ansprüche auf – insbesondere in der damaligen britischen Kolonie Palästina -, daß das Balfour („Gentlemen“) Agreement nur noch wenig Einfluß auf die militärischen Entscheidungen der Briten in diesem Krieg gegen die Achsenmächte haben konnte. Nach großen Verlusten in Südosteuropa und in Nordafrika (Tobruk) und dem Vorrücken der deutschen Heere in Rußland bis zur Krim, also dem Kaukasus (Tor nach Iran, Irak etc.), mußten auch die jüdischen Siedler in ihrer neuen per Balfour in 1917 zugesprochenen „nationalen Heimstätte“ in Palästina(dem Jishuv) um ihr Leben fürchten. El Alamein und Stalingrad kehrte die bedrohliche Entwicklung im letzten Drittel von 1942, also „5 vor 12“, um, die tödliche Gefahr für den Jishuv war gebannt.
Für den Jüdischen Weltkongreß war inzwischen klar geworden:
„The Empire*is doomed“ *das Vereinigte Königreich nannte sich damals ‚Empire‘; manche heute noch …
Parallel zur militärgewaltigen Aggressionswalze der von Deutschland geführten Achsenmächte hatte sich das weltpolitische Machtzentrum vom Vereinigten Königreich auf die Vereinigten Staaten von Amerika verschoben. Diner beschreibt die „Die Übertragung, die translatio imperii, vom Vereinigten Königreich auf die Vereinigten Staaten“ (off subject: heute von den Vereinigten Staaten auf … ?).
Die Angst vor der immer näher kommenden deutschen Gewaltwalze lähmte die jüdischen Siedler im Jishuv so sehr, daß der sich zeitgleich in Europa ereignende Holocaust dort nicht, oder nur schemenhaft wahrgenommen wurde. Mit fatalen Auswirkungen auf die vielen maritimen Flüchtlingstransporte über das Schwarze Meer, den Bosporus, das Mittelmeer.
Diner schreibt: „der Holocaust bewirkte eine Krise der politischen Semantik“. In Palästina hatte man die „Ereignisschwelle von der Verfolgung (der Juden) zur Vernichtung“verpasst. Diner benennt die“anthropologische Weigerung, eine derartige Dimension von Gewalt wahrzunehmen.“ Und: „Das Bewusstsein weigerte sich, die empirische Evidenz zur Kenntnis zu nehmen“.
Diners Erzählung ist spannend und vermittelt viele Erkenntnisse. Man lernt die Geografie jener Zeit kennen und ihre Bedeutung für Geschichte und Politik noch besser schätzen und Ereignisse einzuordnen. Faszinierend z.B.auch die Einflussnahmen der „gewaltbereiten“revisionistischen Zionisten unter Jabotinsky und Benzion Netanjahu, Vater von Binjamin.