Ukraine. Warum geht es um mehr?
Geht es um die Sicherheit in Europa? Ja, auch um diese.
Es geht aber um viel mehr.
Die Kriegsgefahr metastasiert seit Jahren auf unserem Heimatplaneten; im Mittleren Osten, in Afrika (Guinea, Mali, Burkina Faso, Äthiopien, Yemen …). Bürgerkriegsähnliche Zustände in Myanmar, „Failing states“ und Staaten, die sich „in the process of failing“befinden, können plötzlich kippen und zu Kriegstheatern werden.
Europa, noch eine Insel des Friedens … auch deswegen ein Magnet für Millionen Flüchtlinge.
Überall, wo sich „der Westen“ zurückzieht (Syrien, Libyen, Mali), zieht der Kreml entweder verdeckt oder mit den Wagner(*)-Söldnern ein. Zwischenergebnisse sind bekannt. Und Erdogan zündelt da gern mit, egal auf welcher Seite.
(*) Ein privates russisches Sicherheits- und Militärunternehmen. Aus USA seit den Kriegen im Irak und Afghanistan sind solche Söldnerfirmen als Private Military Contractors berüchtigt. Eine Mißgeburt, ein Produkt menschlicher Fehlentwicklung.
Essay im aktuellen Heft von FOREIGN AFFAIRS: „Russia Has Big Plans for Africa”.
Die Autokraten tun sich zusammen. Peking und Moskau haben schonmal mehr als die kritische Masse, den demokratisch verfassten, humanitären „Westen“zu verdrängen.
Peking gebärdet sich imperialistisch, baut an der Neuen Silkroad von Harbin über Wladiwostok nach Duisburg und hat seinen Einfluß auf immer mehr Länder Afrikas ausgeweitet. The Big Men Afrikas nehmen gern die chinesischen Milliarden in Form von Infrastruktur, Fabriken – und ganz sicher auch großzügige kickbacks. Wegen der „obsoleten“ Werte des „Westens“ wie Menschenrechte und Demokratie braucht sich da niemand zu kümmern.
Und es geht auch um Asien; nach Hongkong (bereits abgehakt) um Taiwan, um völkerrechtlich definierten Gewässerschutz (Süd-/Ostchinesisches Meer, Spratly-Inseln). Xi blickt sicher jetzt auf das Spiel Putins. Wenn Putin das Spiel gewinnt, hat Xi ein Muster für eine ähnliche Annexion Taiwans.
Das Tempo dieser Entwicklung hat jetzt zugenommen. Die offenbar gewordene Schwächung der USA zuhause (der duale Kongreß, der gespaltene Senat, der Präsident mit den – nach Trump – schlechtesten Umfragewerten) und die Hals-über-Kopf-Rückzüge aus dem Mittleren Osten (auf Afghanistan vor weniger als einem halben Jahr folgt nun Irak). Auf dieses ‚Amerika‘(**), dem wir hier nach wohlwollender Großmut (Marshall-Plan+Demokratie) unsere ca.75 Jahre friedlicher Entwicklung und Wiedervereinigung zu verdanken haben, können wir uns wahrscheinlich nicht mehr gänzlich(***) verlassen. Europa („der Westen“minus USA) muß sich rüsten.
(**) ‚Amerika’ist unfair gegenüber Lateinamerika und die anderen Länder der Westlichen Hemisphäre.
(***) im Wortsinn.
Eigentlich ist es fast egal für den Verlauf der Geschichte (selbstverständlich nicht für die Ukrainer und die vielen toten russischen Soldaten und deren Angehörige, die dann fallen werden), ob die russischen Streitkräfte in die Ukraine einfallen oder nicht. Putin hat zu hoch gepokert und bereits verloren. Ärgerlich nur, daß die Medien und unsere Institutionen (NATO, EU etc.) das Kreml-Vokabular mit der Sicherheit übernommen haben, ohne jedesmal daraufhinzuweisen, daß es die Angegriffenen sind, die Sicherheit wollen und der Kreml diese bedroht. Diese begriffliche 180º-Drehung ist der typische ‚Spin’ der Peskows, der Lawrows aus dem Kreml und Putins. Da muß man die rhetorische Raffinesse (an-)erkennen. Russland war in den Nullerjahren in die NATO eingeladen worden. Russland wäre also in diesem Bündnis so sicher gewesen wie nie zuvor. Russland, das große Russland, wäre dann allerdings nur Mitglied, nicht mehr wie bisher im Warschauer Pakt, Führungsmacht gewesen. Das wären die USA gewesen. Undenkbar.
Ein kluger Führer hätte dann die Milliarden in die Entwicklung seines Volkes investiert, in Schulen, Universitäten, Gesundheitsdienste und Krankenhäuser und in den überfälligen Naturschutz (****).
(****)Verwüstungen (im Wortsinn) im Nordosten (Permafrost taut weg, Natur geht kaputt), Desertifikation im Süden (die lebenswichtigen Kornfelder).
Das scheint diesen Autokraten nicht umzutreiben. Der hat stattdessen die Streitkräfte aufgerüstet.
Für die provozierte aktuelle Krise ist die Zwischenbilanz heute: er hat erreicht, daß die NATO und die Mehrheit der EU-Europäer (mögliche Ausnahme ist Orbans Ungarn) jetzt so geschlossen sind wie seit langem nicht und daß bislang neutrale europäische Staaten wie Schweden und (das“finnlandisierte‘) Finnland eine NATO-Mitgliedschaft ins Auge fassen.
Putin hat den Beweis geliefert, warum der Wunsch der Ukraine, Mitglied der NATO zu werden, nachvollziehbar ist.
Warum hat der angeblich so intelligente Putin (vielleicht ist er eben nur schlau, aber eben nicht klug) diesen Fehler gemacht? Oder gibt es da eine pathologische Komponente, ein abnorm asoziales Syndrom?
The Economist (15.Februar): “Mr Putin has painted himself into a corner. He could lash out.” (etwa: Herr Putin hat sich in eine Ecke manoevriert. Er könnte ausrasten, oder … .“
Putins eigene Schilderung seiner Ontogenese in gewalttätigen Milieus von Jugendbanden seiner Heimatstadt Leningrad und das Erlebnis mit der Ratte ist ein Bezug zu diesem „lash out“: „… ich entdeckte eine riesige Ratte und begann mit der Verfolgung, bis ich sie in die Ecke getrieben hatte … sie konnte nicht mehr entkommen. Da bäumte sie sich auf und ging auf mich los. Sie hatte den Spieß umgedreht und jagte mich.“
Die mir bekannten Biografien von Alexander Rahr (2001) und Masha Gessen (2013) beschreiben eine instinktiv gewalttätige Persönlichkeit. Putin hat gelernt, den Spieß in scheinbar aussichtslosen Situationen umzudrehen. Das hat Putin – wie gesagt – selbst stolz beschrieben.
Putin hat in Interviews auch beschrieben, welche Schlüsse er aus den Erlebnis mit der Ratte gezogen hat: ‚Angst nicht als lähmendes Element, sondern als Mutquelle, wenn man „in die Enge getrieben“ wird.
Ist Putin mit seinem Poker jetzt in der Enge? … und bringt jetzt auch den schwarzen (Atom-)Koffer mit dem roten Knopf in den russischen Situation Room mit? Möglicherweise ein Symptom dafür, daß sich Putin in die Enge gedrängt fühlt.
The Economist mahnt: “… ein Rückzug jetzt, nachdem seine (Putins) Ambitionen vereitelt sind, führen dann wohl zu einem späteren Angriff“. Und weiter: „Nur, wenn sich der Westen dieser Bedrohung stellt, hat er beste Chancen, Russland von dieser Entscheidung abzuhalten.”
Hier ist ein Mann an der (Atom-)Macht, der vielleicht nur noch von seinen eigenen Leuten von einem Armageddon abgehalten werden kann.
Geht’s auch etwas kleiner?
Leider nicht.
Ich denke gerade Dr.Malcolm(Jeff Goldblum) in „Jurassic Park“der, vom Tyrannosaurus verfolgt, seinen mitfliehenden zuruft: „Boy, I hate being right ….“
Europa verteidigt sein Leben, seine Lebensweise, seine Werte in der Ukraine. Russland greift nicht nur die Ukraine an. Und dieses Mal sind die Deutschen Les Bienveillants, die Wohlmeinenden.
Elbridge Colby (Direktor der Denkfabrik „The Marathon Initiative“ in Washington) im Gastbeitrag der Süddeutschen Zeitung vom 20.02.22:
„Deutschland ist der Scharnierstaat für Europas Zukunft. Es ist die bei Weitem größte Volkswirtschaft und der einflussreichste Staat auf dem Kontinent. Es ist der einzige Staat, der jene militärische Kraft entwickeln könnte, die den Verlust konventioneller amerikanischer Kapazitäten ausgleichen könnte – ein Militär, das eine Allianz beschützen könnte, anstatt sie zu dominieren. Deutschland fiele es am leichtesten, künftiges Leid zu verhindern. Daher hat es auch die Verantwortung dazu.“
Also folgen wir Vegetius (Berater der spätrömischen Imperatoren des 4.Jhd): Wer den Frieden will, muss für den Krieg rüsten …
Oder weiter mit ‚Cultiver notre propre jardin?‘
Auch Walter Benjamin hat sich dazu vor 100 Jahren („Wer aber den Frieden will, der rede vom Krieg.“) und Yuval Noah Hariri in der letzten Woche dazu geäußert.
Ein Thema, das uns noch weiter beschäftigen wird.

Yuval Noah Hariri hat vor einer Woche dazu in The Economist geschrieben.
Hier ist eine Kurzfassung (deutsche Übersetzung danach):
At the heart of the Ukraine crisis lies a fundamental question about the nature of history and the nature of humanity: is change possible? One school of thought firmly denies the possibility of change. It argues that the world is a jungle, that the strong prey upon the weak and that the only thing preventing one country from wolfing down another is military force.
Another school of thought argues that the so-called law of the jungle isn’t a natural law at all. Humans made it, and humans can change it. Contrary to popular misconceptions, the first clear evidence for organised warfare appears in the archaeological record only 13,000 years ago. Even after that date there have been many periods devoid of war. Unlike gravity, war isn’t a fundamental force of nature. Its intensity and existence depend on underlying technological, economic and cultural factors. As these factors change, so does war.
Im Mittelpunkt der Ukraine-Krise steht eine grundlegende Frage über die Natur der Geschichte und die Natur der Menschheit: Ist Veränderung möglich? Eine Denkschule bestreitet entschieden die Möglichkeit des Wandels. Es argumentiert, dass die Welt ein Dschungel ist, dass die starke Beute der Schwachen ist und dass das Einzige, was ein Land daran hindert, ein anderes niederzuschießen, militärische Gewalt ist.
Eine andere Denkschule argumentiert, dass das sogenannte Gesetz des Dschungels überhaupt kein Naturgesetz ist. Der Mensch hat es geschafft, und der Mensch kann es ändern. Entgegen den Missverständnissen der Bevölkerung erscheinen die ersten eindeutigen Beweise für organisierte Kriegsführung erst vor 13.000 Jahren in den archäologischen Aufzeichnungen. Selbst nach diesem Datum gab es viele Zeiträume ohne Krieg. Im Gegensatz zur Schwerkraft ist Krieg keine grundlegende Naturgewalt. Seine Intensität und Existenz hängen von den zugrunde liegenden technologischen, wirtschaftlichen und kulturellen Faktoren ab. Mit diesen Faktoren ändert sich auch der Krieg.