Mein Russland.
„Russland lesen“absorbiert, regt an und erzeugt besondere Stimmungen, die sowohl melancholisch, romantisch oder einfach nur mitfühlend sein können.
Puschkin lesen und dann auch Tschaikowski (Peter Onegin, Pique Dame) oder Mussorgski (Boris Godunow, Chowantschtschina, Bilder einer Ausstellung) hören und die Bilder zu empfinden, die dabei im Kopf entstehen, das geht für mich zusammen. Ebenso Lady Macbeth von Mzensk, geschrieben von Nikolai Leskow, vertont von Dmitrij Schostakowitsch (mein Favorit seit über 60 Jahren).
Tolstoi, Gogol, Tschechow … das kann nicht vollständig sein.
Und diese ungeheuer mitreißende Musik von den genannten Großen plus Skriabin, Glasunow, Prokofieff … auch hier nicht vollzählig. Es sind da auch diese oft von Bariton und Bässen getragenen Stimmen, die mich so bewegen … nichts gegen die Sopranos, lieber sind mir die Altstimmen . Nicht zu vergessen, die großen Ballett-Kreationen (Der sterbende Schwan, der Feuervogel, Le Sacre du Printemps).
Zum Russland-Lesen gehören auch eher bedrückende, grausame, furchtbar menschliche Romane (Solschenizyn, Ulitzkaja, Pasternak, Grossmann, Sorokin).

Über das (fast noch) aktuelle Rußland empfehle ich Masha Gessens „Bericht“. Sie beschreibt in„Die Zukunft ist Geschichte“, warum ein Land, das in einem ungeheuren Kraftakt die lähmenden Machtstrukturen der UdSSR abschütteln konnte, wieder zu einem autoritär geführten Staat mit neoimperialen Zügen geworden ist.
Frau Gessen erhielt für diesen Gesellschaftsroman 2019 den Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung.
Alexander Radischtschew. Von ihm stammt das Buch „Reise von Petersburg nach Moskau“ (1790). Als Epigraf steht ein Satz, der das damalige zaristische tief menschenverachtende und verlogene System der Leibeigenschaft bezeichnet: „Das Ungeheuer ist gewaltig, gemein, hundertköpfig und bellend“.
Kann es denn wirklich sein, dass sich bis heute nicht viel verändert hat?
Die Ausstellung russischer Impressionisten im Potsdamer Barberini-Museum – natürlich auch in der Tretjakow-Galerie in Moskau – bildet diese großartige Sensibilität und Kreativität russischer Menschen ab.
Es ist mir wichtig zu zeigen, warum man Russland bewundern und lieben kann.
Gerade jetzt.

Ergänzungen am 19.März 2022 (Quelle: Die Zeit vom 17. – Feuilleton):
„Es darf kein Gleichheitszeichen geben zwischen jenen Menschen, die den Krieg führen, und unserem Russland.“ Marina Dawydowa*1966 (Theatermacherin, bisher in Moskau).
„… die Älteren, zur Sowjetzeit aufgewachsen, vertrauen dem Fernsehen – Propaganda wirkt bei ihnen hervorragend. Es ist aber nicht nur eine Frage des Alters, sondern auch eine der Bildung und des Umfelds – in kleinen Städten ist das Leben rückständiger als in Moskau.
Unsere Geschichte ist nicht nur die Geschichte der Diktatur, der Repressionen, des Kriegs, sondern auch die der kleinen, aber starken Leute – der Leute, die bleiben und weiterhin ihren winzigen Beitrag leisten werden.“ (Ekaterina Seynetdinowa*1994, Violinistin, bisher in Moskau)
„Es gibt zwei Russlands. Unser Russland, das Russland schöpferischer Menschen, der Intellektuellen. Innerhalb dieses Russlands mühen wir uns ab – für Offenheit, Transparenz, gewaltfreie Kommunikation.
… (das) ist () nur eine kleine Blase, die wir selbst erzeugt haben, um uns abzugrenzen von jenem großen Russland, das völlig anders ist und schon immer existierte – nur hatten wir uns daran gewöhnt, es zu ignorieren. Jetzt ist unsere kleine Blase geplatzt.“ (Anna Demidowa *1986, Schauspielerin, Pädagogin, Regisseurin, bisher in Moskau)
Videoausschnit unten: Das sind die sympathischen russischen Mitmenschen, die sich hier über die Zugabe von Denis Matsuev anläßlich des Jubiläumskonzerts der Moscow Philharmonia am 29.Januar 2022 ansteckend freuen. Gergiew als Parteigänger und Unterstützer Putins passt da nicht rein.