Über die Auseinandersetzung über die Zurverfügungstellung von „schweren Waffen“für die Ukraine.
1. Mai 2022
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28 Intellektuelle und KünstlerInnen schreiben einen Offenen Brief an Kanzler Scholz (publiziert in EMMA,
mit dem Hinweis im Logo: Bleibt mutig! … ich ergänze: jetzt besonders!)
https://www.emma.de/artikel/offener-brief-bundeskanzler-scholz-339463
… Zwei Grenzlinien, die nach Überzeugung der Signataren nicht überschritten werden sollten, sind
(1) die Lieferung großer Mengen schwerer Waffen, wodurch Deutschland selbst zur Kriegspartei wird und …
(2) die Vergrößerung des Maßes an Zerstörung und menschlichen Leids unter der ukrainischen Zivilbevölkerung (durch Verlängerung des Kriegs, ermöglicht durch Lieferung schwerer Waffen) –
(1) und (2) = zusammengefasst ein zentraler Irrtum.
Begründet vor zweifachem Hintergrund:
(1) Historisch: der Ukraine wird seit der Kiewer Rus das Recht auf Eigenständigkeit und Souveränität verweigert, bzw.streitig gemacht (von Türken, Mongolen, Polen-Litauen, Russland, UdSSR und „seit Putin“ wieder durch die atomar bewaffnete russische Föderation). Die russische Föderation (Rohstoff- und Energielieferant, die „nukleare Tankstelle“, Zitat Yuval Harari) will an Katharina II, Nikolaus I anknüpfen und wieder imperial werden und gibt für das Militär 20 % des BIP (etwa gleich groß wie das BIP Italiens) aus, anstatt in Bildung, Gesundheit und allgemeinen Wohlstand zu investieren.
Zur Erinnerung: Die EU gibt gerademal 2% ihres BIP für die Rüstung aus. Das war lobenswert und hatte (*) die Zustimmung der EU-Bürger. (* nicht mehr – dank Putins Aggression).
Es lohnt, sich mit der Geschichte der wohl bis 2016 wenig bekannten und eher“uninteressanten“Ukraine zu beschäftigen. Ich für meinen Teil bemühe mich um einen wenigstens parziellen Ausgleich dieses Kenntnisdefizits mit der Lektüre des historischen Abrisses des Slawisten Professors em. Andreas Kappeler. Kurz gefaßt hier zwei „takeaways“ aus dieser trotz der außerordentlichen Komplexität des Themas gut lesbaren Übersicht:
(a) die Kosakenkultur als Kern der „späten“Ukrainenation war im Gegensatz zur Väterchen Zar, später Väterchen Stalin unterwürfigen Untertanennatur der multinationalen russischen Bevölkerung (Stalin war Georgier) egalitär orientiert und nach dem Westen ausgerichtet. Die Russen waren eher in die Weiten nach Osten ausgerichtet. Ein britischer Journalist fragt einen russischen Kollegen: “ … fühlt Ihr Euch eher als Europäer oder als Asiaten?“ Der überlegt und antwortet: “ … wir fühlen uns als Russen“.
(b) die „späte“Nation Ukraine gibt es „pränatal“ seit der Kiewer Rus (nach dem 8.Jahrhundert) und verkämpfte sich zur westlich orientierten Nation emanzipatorisch gegen die imperialen Expansionen und Unterwerfungen durch Polen-Litauen, Polen, Katharina II und Nikolaus I, Rußlandzar und zeitweise König von Polen (imperiales Zitat„dreieiniges russisches Volk: Großrussen, Kleinrussen, Belorussen“), zuletzt Österreich-Ungarn und die UdSSR. Es ist fast anstrengend zu lesen, wie sich die Ukraine bis 1994 und 2004 (Orange-Revolution) und 2013/2014 (Euromaidan) mühsam abgekämpft hat, um heute die insgesamt so nationalbewußte Ukraine zu sein, die wir in den letzten Monaten kennengelernt haben.
Im Deutschlandfunk interviewt Stephan Dätjen den Autor/Historiker Andreas Kappeler. Mittelbar sei der Russland-Ukraine-Konflikt eine Folge des Zusammenbruchs der Sowjetunion, sagte er noch vor dem 24.02. Auf Seiten Russlands gebe es ein „postimperiales Trauma“. Putins Hegemonialstreben ziele auf die Wiederherstellung des Imperiums – in kleinen Schritten, meinte Kappeler „damals“.
Unbedingt hörenswert:
https://www.deutschlandfunk.de/ungleiche-brueder-historiker-andreas-kappeler-zum-russland-ukraine-konflikt-dlf-a0ff3a86-100.html
In der historischen Betrachtung findet auch die Aufarbeitung der faschistischen „Ausschläge“ mit der OAU (Bewegung Ukrainischer Nationalisten) und der UPA (Ukrainische Befreiungsarmee) in den Jahren 1920 bis 1945 Niederschlag. Kappeler arbeitet auch diese sorgfältig und objektiv bis heute auf.
Ein update zu rechtsextremen Gruppierungen in der nationalen Politik Ukraines von heute dokumentiert, dass diese – mit einem Stimmenanteil von 1% in den letzten politischen Wahlen – eine geringere Bedeutung haben als die bei uns in unserem Parlament vertetene rechtsextreme AFD. Über den Beitrag des rechtsextremen Asow-Regiments zur aktuellen nationalen Verteidigung der Ukraine (auch in Mariupol) berichten die Medien regelmässig. Muss man Verständnis dafür haben, dass die ukrainische Regierung diesen Beitrag zur Verteidigung gegen den übermächtigen Feind akzeptiert und positiv bewertet?
(2) „Das Recht zur Selbstverteidigung ist in Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen festgelegt und stellt eine Ausnahme vom Gewaltverbot dar. Es gibt jedem Mitgliedstaat das Selbstverteidigungsrecht gegen einen bewaffneten Angriff“ (Wikipedia). Entweder die Signatare des Offenen Briefs kennen dieses humanitäre Menschenrecht nicht oder – ziemlich schlimm – es ist ihnen im Wortsinn gleichgültig, weil sie lieber unfrei und unterdrückt leben als frei tot zu sein.
Ich für meinen Teil halte das humanitäre Völkerrecht gegenüber dem Pazifismus für vorrangig. Rechtes Bild: Kiew vor der „Militäroperation“ des Großen Bruders. [iStock-Foto]
Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) meldet über Die Grünen anlässlich ihres Länderrattreffens in Düsseldorf an diesem Wochenende: es wird ein Kompromiss zwischen Russland und der Ukraine angemahnt, „den beide Seiten akzeptieren können“ und es gehe „nicht um die Frage“, ob jemand „Panzerfan oder Pazifistin“ sei, sondern um Grundprinzipien des Zusammenlebens der Staaten.
Grünen-Covorsitzender Nouripur gestern: „Wir werden immer Friedenspartei bleiben“. Linkes Bild: Kiew – gestern [Foto von HEUTE, Österreich].
Ich ergänze noch einmal (mein Blog vom 04.März) mit Vegetius aus 400 A.D.
: „Wer den Frieden will, soll für den Krieg sich rüsten“ und wünsche mir eine wehrhafte Demokratie. Hier noch ein paar Sätze zu Jürgen Habermas und seine Unterstützung von Olaf Scholz (Beitrag in der SZ vom 29.04.):
H.kritisiert nicht die Entscheidung für schwere Waffen. Er kritisiert „den von Pressestimmen geschürten Meinungskampf über Art und Ausmaß der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine“ … Das Klagen über die politischen Fehleinschätzungen und falschen Weichenstellungen früherer Bundesregierungen und toleriert Habermas („verständlich“). Auch, daß diese Fehler „umstandslos in moralische Erpressungen umgemünzt“ werden, versteht H., der dann Scholz für die „besonnene Entscheidungsfindung bei der Risikobetrachtung“ lobt und es in Ordnung findet, sich dafür Zeit zu nehmen (Anmerkung: wieviel Zeit auf Kosten von Menschenleben darf man sich für diese notwendige Entscheidung nehmen? Und wer setzt die ‚Risikoschwelle‘, bei deren Überschreiten Deutschland zur Kriegspartei wird? Ich glaube, Putin, denn wenn es nach ‚Recht und Gesetz'(geschriebenes Völkerrecht) geht, dann „regelt das Neutralitätsrecht das Verhältnis zwischen Staaten, die in einem internationalen bewaffneten Konflikt kämpfen (Kriegsparteien), und Staaten, die nicht am Konflikt teilnehmen (Neutrale).“
Wir sind faktisch seit dem 24.02.22 nicht mehr neutral, aber mit dem Recht auf kollektive Selbstverteidigung nach Artikel 51 der VN-Charta sind auch Waffenlieferungen an ein angegriffenes Land geregelt. Waffenlieferungen an die Ukraine sind im vorliegenden Fall nicht neutralitätswidrig, da im Falle einer völkerrechtswidrigen Aggression das Neutralitätsrecht nicht zur Anwendung kommt.
Danach kann Deutschland den angegriffenen Staat in diesem Fall ‚eines bewaffneten Angriffs‘ – ausgenommen einer Beteiligung an den Kampfhandlungen mit eigenen Streitkräften – mit Waffen und Munition unterstützen. Durch die Unterstützung der Ukraine seit Wochen auch mit sog.defensiven Waffen (ich erkenne keinen Unterschied zwischen defensiven und offensiven Waffen. Waffen werden in Händen des Angreifers zu offensiven und in Händen des Angegriffenen zu defensiven Waffen.) Von Anfang an (seit dem 24.02.)droht Putin mit dem Einsatz nuklearer Waffen. Sog.“kleine“, „taktische“ Atomwaffen(die – zynisch! – „deshalb entwickelt worden sind, um Kriege unter Atommächten wieder möglich zu machen“) sind laut U.S.Geheimdiensten möglich, weil die Russen für solche Fälle, wie sie jetzt anstehen, vorgesorgt haben.
Putins Furcht-Karte
Ralf Fücks in der SZ dieser Woche (H.zitiert Fücks) und andere (Claudia Major, Florence Gaub): … erst diese Politik der Nuklearfurcht ermöglicht Putin willkürliches Handeln und schrittweises Eskalieren. Man spielt Putins Spiel.
Habermas: „Wer sich auf rational vertretbare Weise gegen eine ‚Politik der Furcht’wendet, bewegt sich schon innerhalb des Argumentationsspielraums jener politisch zu verantwortenden und sachlich umfassend informierten Abwägung, auf der Bundeskanzler Olaf Scholz zu Recht besteht. … ist es nicht ein frommer Selbstbetrug, auf einen Sieg der Ukraine gegen die mörderische russische Kriegführung zu setzen, ohne selbst Waffen in die Hand zu nehmen?“ H.schließt seinen Beitrag dennoch mit der Hoffnung, daß die Ukraine gegen den militärisch weit überlegenen Feind obsiegt.
H.spottet (er würde das so wohl nicht nennen) über die zur „Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogene“ Generation einer Annalena Baerbok und die „Konversion der einstigen Pazifisten und ihre kurzschlüssigen Forderungen“. Ich erinnere daran, daß Die Grünen von Anfang an die Menschenrechte zu ihren Grundwerten erklärt und immer im Programm hatten. Ich meine: Wenn diese Grundwerte – wie jetzt – zur Disposition stehen, wird der Pazifismus zur gefährlichen Ideologie.
Verhandeln
Habermas „binst“(von Binsenwahrheiten) : … atomare Kriege können nicht mehr im herkömmlichen Sinne „gewonnen“ werden und zitiert Alexander Kluge (der den eingangs zitierten Offenen Brief auch unterschrieben hat): „Vom Krieg kann man nur lernen, Frieden zu machen.“ Wohl wahr.
Über die Forderungen, die Rußland für ein Verhandlungsergebnis stellt, gibt es inzwischen nur Wiederholungen: ein Frieden, auf den der souveräne Staat Ukraine eingehen kann, ist bisher mit Putin nicht zu machen, weil die Souveränität und die territoriale Integrität (also inklusive des für die Lebensfähigkeit der Ukraine notwendigen Donbas) zusammengehören und nicht mit den Kriegszielen Putins korrespondieren. Die Krim könnte ein Preis sein, auf den man sich wohl einlassen müsste, wenn sich Putin unter dem Druck eigener Verluste an der Front und dem inzwischen wachsenden Druck einiger Oligarchen (besonders derjenigen, die schon Oligarchen vor Putins Präsidentschaft waren)
damit zufrieden gäbe.
Ein Waffenstillstand würde einen beidseitig un-befriedigenden Zustand einfrieren. Das heisst, die nächste Aggression wäre nur eine Frage der Zeit. Putin könnte die nächste „Militäroperation“starten, wenn mit dem geplanten ‚Marshall-plan‘ aus USA und Europa (European Recovery Program) und nach vielen Euro- und Dollar-Milliarden wieder einiges steht und funktioniert. Dann würde sich die Operation nach Kreml-Lesart wieder lohnen.