Das Produkt der Propaganda-Maschine im Kreml ist Desinformation.
10. August 2023
/
Es ist teuflisch effizient.
Über den Roman “ M a g i e r i m K r e m l „
Der Magier hat es in Giuliano Da Empolis Roman, einer faktischen Fiktion – gibt es so etwas ? – mitreißend, unterhaltsam, so beängstigend g l a u b h a f t – oder nicht? – beschrieben, daß man das Buch nicht mehr aus der Hand legt. Der Magier ist Erzähler.
Das ist ein pageturner.
Bezüge auf Personen, die mich seit langem beschäftigen … „mein“Schostakowitsch, dessen Musik für mich so sehr russisch ist (meine in Ost-Berlin in 1958 für ein paar Ostmark erstandenen Vinyl-Platten, Marke’Melodya‘, die Biografien des seit der Kindheit chronisch kranken Dmitrij …) und die noch eine Drehung russischer wurden durch sein Leiden unter Stalin.
Samjatin, ein anderer großer Russe in Empolis Roman, Schriftsteller und Freund Schostakowitschs … „Wenn die Dissonanz von der Macht zermalmt wird, ist es bis zum Gulag nur noch eine Frage der Zeit. Werden unerlaubte Harmonien (Lady Macbeth von Mzensk) unterdrückt, gibt es bald nur noch Platz für Märsche im Gleichschritt. Die Moll-Tonalität, die den idealen der neuen Gesellschaft nicht entspricht, wird zum Klassenfeind … Dur, nichts als Dur. … „.
Die Angst, die Schostakowitsch nach Stalins Brutalkritik der „dissonanten“ Lady-Oper durchleben mußte, ist zuletzt noch in Julian Barnes‘ „The Noise of Time“ einfühlsam beschrieben.
Die Erzählungen über Boris Beresowki und Michail Khodorkowski – beide clevere Schlingel – und Khodorkowskis geschiedene Xenia, die (das ist wohl Fiktion, glaube ich …) auch Baranows Gefährtin war. sind dagegen „nur“ sehr unterhaltsam.
Ergänzend und irgendwie passend zu der Erzählung des Magiers denke ich an Interviews und Hard Talks (BBC) mit Protagonisten des Monsteregimes im Kreml (Dmitrij Peskow, Kreml-Sprecher, oder Medwedjew, Vize des Sicherheitsrats und ex-Präsident von Putins”Gnaden” von 2008-2012 und andere), die im Ton der Selbstverständlichkeit und „ohne mit der Wimper zu zucken“, auf den Kopf gestellte Fakten (die NATO als Angreifer, Selensky als Faschist …) “erklären”, vortragen, propagieren – da bleibt einem die Luft weg. 
Der Erfolgsroman wurde ursprünglich in Frankreich 2021 verlegt, überschwänglich gelobt und mit dem Großen-Roman– und fast noch (5:5) dem Goncourt-Preis ausgezeichnet (die deutsche Ausgabe gibt es seit März dieses Jahres). In Frankreich traf er – allerdings noch ein Jahr vor Rußlands Angriff auf die Ukraine – auf ein fast peinlich russophiles Publikum, dem der “Putin etwas zu gut (=positiv) erklärt wird” (NYT) und die französische Politikwissenschaftlerin Cécile Vaissié zu dem Kommentar veranlaßte, daß sich das Buch ein”bißchen wie Russia Today für Saint-Germain-des-Prés”liest.
Allerdings … … wenn irgendwelche Darsteller des Kreml-Systems den Mund aufmachen, sind es meist als plumpe Lügen erkennbare Berichte, Verlautbarungen, Erklärungen, häufig auch „faktisch“getarnte Lügen.
Das Problem: man glaubt diesen Protagonisten auch dann nicht mehr, wenn diese tatsächliche Fakten zitieren.
Und es gibt auch hier im noch demokratisch verfassten Europa viele, die glauben, was sie glauben möchten und in dieser geistigen Verfassung eben auch zu vieles, was von Moskau propagiert wird. Beim Lesen entsteht zur Hauptperson des Romans, dem Berater Putins, dem « Magier im Kreml » (und sehr unterhaltsam zu dessen Großvater und Vater), eine gewisse, irgendwie auch unbehagliche Nähe durch das Verstehen der Motivlagen dort – Kollaps der UdSSR, Chaos, Ausverkauf der Industriekombinate zu rock-bottom-Preisen, massive Korruption, Bentleys, Mercedes Maybachs und grausame Armut und alles nebeneinander auf Moskaus Straßen.
In Da Empolis Erzählung lernt man den Putin-Berater Baranov, den Meister-Spin- Doctor kennen und mit ihm, dem ehemaligen Theaterimpresario, die Kunst der sublimen Manipulation und deren mediale Instrumente (TV, Massenveranstaltungen etc.).
Instrumente, die der „Zar“, also Putin, vereinnahmt hat.
Den Berater – zeitweise auch stellvertretender Premier – Wladislaw Jurjewitsch Surkow – hat es in diesen Funktionen und der Position bis vor drei Jahren wirklich gegeben.
Es ist das würzig Faktische in dieser Fiktion.
(Der Herausgeber: Der Roman beruht auf wahren Begebenheiten und realen Personen, denen der Autor allerdings ein Privatleben und erfundene Äußerungen zugeschrieben hat.)
Surkow alias Baranow hat einen Zustand zwischen Inferno und der realen Welt, eine Art Purgatorio erzeugt, in dem man nicht mehr zwischen Oben und Unten, zwischen wahr und unwahr, unterscheiden kann … Surkow hat offensichtlich einen beträchtlichen Anteil an der Ausformung des Putin-Systems wie wir glauben es zu kennen. Surkow-Baranow setzt hier seine Konzeption um :
« … das menschliche Gehirn hat viele kleine Schwachstellen. Sie zu kennen und sich zunutze zu machen, ist unsere Geschäftsgrundlage. » … und so entwickelte sich die Macht Putins von der Legende zur Realität.
Baranow: « Wir hören auf Fiktionen zu erschaffen und erschaffen stattdessen die Realität.»
Und : »Wenn die Leute sich nicht mehr für Politik interessieren, schenken wir ihnen eine Mythologie. »
Flashback Da Empolis im NZZ-Interview zu seinem Roman (2021): „In den 1990er Jahren implodierte das alte System. Obwohl es nicht funktionierte, hatte es – wie zuzeiten der UdSSR – für die Leute immerhin eine gewisse Berechenbarkeit. Dann brach das Chaos aus, Moskau wurde zu einem Disneyland für Erwachsene mit Kalaschnikows. In so einem Umfeld wünschen sich die Menschen eine Wiederherstellung der Autorität, oder wie es Putins Leute ausdrücken: die Vertikalität.“
Zitat aus dem Roman: “Die zwei Dimensionen Rußlands: die horizontale Achse entspricht der Nähe des Alltags und die vertikale der Autorität.“
Aber Achtung, der Hochmut im „Westen“ kommt vor dem populistischen Fall: diesen Wunsch nach Ordnung, Autorität und Kontrolle kann man inzwischen auch bei uns beobachten. Die Popularität von Putin an einigen Stellen im „Westen“ zeigt sehr klar, dass es das Bedürfnis nach Vertikalität auch bei uns gibt (Ostalgie etc.).
Appetitanreger aus dem Roman:
„Russland muß zu einem Ort werden, an dem man seine Wut auf die Welt ausleben und gleichzeitig ein treuer Diener des Zaren bleiben kann.
„Gewalt war schon immer das Herz des russischen Staates.
Wie überall auf der Welt gibt es auch in Rußland Humor, vielleicht eher Galgenhumor dank der dort wohl schon immer herrschenden Lebensbedingungen.
Über die Lubjanka in Moskau (NKWD*-Gebäude) „ … ist das höchste Gebäude der Stadt, weil man aus seinen Kellern bis nach Sibirien schauen kann.“
*Berüchtigter Geheimdienst Russlands (hat es in Rußland schon immer gegeben).
Amerikaner als Lieblingsfeinde … „New York ist lustig. Man muß nur den Amerikanern aus dem Weg gehen.
Oder … „die Patrioten, die auf den zweiten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten pochen und ihre Automatikgewehre sogar aufs Klo mitnehmen.“
Empolis Beobachtung paßt nur scheinbar nicht dazu: „ … man sah ihn lachen, was in Rußland, wo schon ein einfaches Lächeln als Zeichen von Schwachsinn gilt, höchst selten ist.“
Galgenhumor eben … immerhin.