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Die Fatalität

„I have seen it coming“

Vor etwa einem halben Jahr habe ich die App der Jerusalem
Post heruntergeladen, weil ich die Entwicklung in Israel aus größerer Nähe
– virtuell verfolgen wollte. Motiviert hat mich die Situation, die vor etwa einem Jahr durch die von Binyamin Netanyahu gebildete Koalition entstanden war und deren aktuelle Zusammensetzung meine Phantasie, was nun wohl in Palästina passieren wird, besonders erregt hat. 

Netanyahu, dessen politische Ontogenese und Politik ich seit seinem Auftreten auf der Israel-Bühne in den 90ern mit einer Mischung aus sachlichem Interesse und wachsendem Unbehagen verfolge, ist – seit dem Hamas-Schock  ganz offensichtlich nicht der Zauberer, den seine Bewunderer so sehen (wollen), sondern der Zauberlehrling, der mit dem Geist zu tun hat, den er aus der Flasche gelassen hat.

Er hat mit dieser Koalition und seinen teilweise vorbestraften, extremistischen Koalitionspartnern, eine Schwächung Israels bewirkt.
… und er versucht weiterhin, die Judikative des praktisch demokratischen, 
also de facto gewaltenteilenden Staatswesens als eine der konstitutiven Komponenten auszuhebeln. Das wollen nicht nur die vorbestraften Minister, sondern auch der noch nicht vorbestrafte, aber unter Anklage stehende Netanyahu selbst, weil diese Jetzt-Koalitionäre sich ohne die Kontrolle der obersten Richter und das Reasonableness-Kriterium ihre eigenen Gesetze machen können, die Westbank annektieren und sich selbst begnadigen können.
Handelsblatt im 
Dezember 2022:

… die Angst vor laufenden
Korruptionsprozessen treiben den designierten Premier
(Netanyahu) in die Arme von Extremisten.

Einer der Geburtsfehler der Demokratie Israels ist, dass
d
ieser Staat keine Verfassung hat und auch keine zweite Kammer – wie die USA (Congress und Senat) oder die Bundesrepublik (Parlament und Bundesrat). So hat Ben Gurion mit seinen Mapai- Parteigenossen (Arbeiter- oder Arbeitspartei) unter dem Druck des im August 1948 auslaufenden britischen Mandats im Mai desselben
Jahres
in einem Teil des geteilten Palästina
Israel gegründet.
Man war in Eile und erarbeitete nicht – wie der westliche Teil Deutschlands in 1949 – erstmal ein Grundgesetz oder eine Verfassung in Vorbereitung des jungen Staates.

Bei uns brauchte der parlamentarische Rat 1948/49 für die
Festlegung des Grundgesetzes mehr als acht Monate.
Die Zeit hatten die Mapai-Genossen nicht.

Außerdem hatte man wohl für die damals 800.000
Israeli andere Prioritäten, z.B. die Selbstbehauptung
gegenüber den im wesentlichen feindseligen Palästinensern.

Heute hat Israel fast 10 Millionen Einwohner;
eine Verfassung ist
also schon lange ein Imperativ.

Immerhin, die Demokratie hat auch ohne eine formale Verfassung 75 Jahre gehalten …
Bravo!

Der andere Geburtsfehler:

nach dem Scheitern des UN-Teilungsplans in 1947 schufen die jüdischen Eingewanderten den Staat Israel und
erklärten ihre Unabhängigkeit, ohne sich mit den palästinensischen „Ureinwohnern„zu arrangieren.

Die aus ihrer Heimat vertriebenen Palästinenser erlebten nach dem ersten arabisch-israelischen Krieg von 1948 den
Verlust ihrer angestammten
Heimat, dieNakba„, übersetzt: die „Katastrophe“ ihres Heimatverlusts.

Als ich in den 1980ern im Rahmen meiner Arbeit Israel mehrfach bereiste, Zeit in einem Kibbuz bei Be‚er Sheva (südöstlich von Gaza) verbrachte, viele Besuche dort in Tel Aviv, Haifa und Kirjat Shmona (östlich von Tyros, Libanon) machte und viele Freundschaften schloß (es gab gegeseitige Besuche in Israel und bei uns hier). Ich traf dort häufig auf Palästinenser und sah diese mit dem Blick des Kolonialisten: arme Teufel, mit denen man sicher keinen Staat machen kann.

Ich hätte mich damals an meinen Besuch in der Region etwa zwanzig Jahre davor (1961) erinnern müssen.

Damals war ich mit meinem Freund Manfred er, Medizinstudent und Jazz-Posaunist, ich, Gymnasiast – aus Freiburg unterwegs in der Türkei, in Syrien, Libanon und in Jordanien(the Hashimite Kingdom) und besuchte auch den östlichen Teil des damals geteilten Jerusalem.

In Jericho waren wir Gast eines Palästina-Flüchtlings
(besser: Vertriebenen), Uni-Professors, und seiner deutschen Frau. Gern denke ich an die Gastfreundschaft und Bewirtung mit Wiener Würstchen
, einem phantastischen Kartoffelsalat,
Heineken-Bier
… das Gespräch mit dem Professor habe ich verdrängt, insbesondere den persönlichen Teil der Erzãhlung des Professors: er berichtete von seiner Vertreibung, d.h., seiner Familie aus seinem Heimatland und dem Obstanbau seiner Familie …

Nun zur 
„Fatalität“:

Ich habe mich bisher nicht getraut, die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Landnahme in Palästina durch die Einwanderer jüdischer Bürger unzweideutig zu beantworten, weil ich in diesem Reflexionszirkel dann selbst im “Gefängnis” als Angehöriger einer Gemeinschaft lande, die als Erfinder, Hersteller und Unternehmer des Holocaust mittelbar den überwiegenden Anteil an der Verursachung dieser Landnahme und Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat hat.
Das ist die zuende gedachte Fatalität.

Es hat sich, wie überall auf der Welt, seit 1948, 1961 und besonders seit den Achtzigern sehr viel verändert.
Besonders im Mittleren Osten.

Die Palästinenser verteilen sich überall in der Welt. Viele sind ausgewandert. Die meisten aber leben in der Westbank und in Gaza.

Gaza hat seit 2007 eine Terror-Diktatur, unter der die Bevölkerung dort leidet; die verhandlungsunfähige Hamas hat sich von der Autonomiebehörde, de iure die rechtmäßige Vertretung aller Palästinenser, in Ramalla getrennt.

Schnitt:
Obwohl die Hamas sunnitisch ist, wird sie von der schiitischen Hisbollah (der Partei Gottes) gesteuert. Die Hisbollah ist eine ebenfalls terroristische Organisation
und wird ihrerseits vom schiitischen Gottesstaat Iran finanziert und gesteuert.

Auch ohne Phantasie ist die Steuerung und die Lieferkette, die diesen aktuellen Horror ermöglicht,
leicht zu erkennen.

Hamas provoziert Israel zu konterproduktiven Maßnahmen. Eine Solche wäre eine Invasion Gazas mit Bodentruppen, Panzern etc., die “Rache”übt.

Das ist das Ziel Irans.

So sollen die Bemühungen um neue Beziehungen, die gegenseitigen Anerkennungen und der Aufbau einer Wirtschaftsunion, ganz einfach um mehr Frieden in dieser
gebeutelten Region zunichte gemacht, auf jeden Fall gestört werden.

Ich fürchte, mit der aktuellen Koalition in Jerusalem ist das alles gefährdet. Hier können leider wieder nur die USA korrigieren. The New Yorker erklärt heute (14.10.), welche Folgen eine Annexion Gazas haben könnte:

The New Yorker warnt heute, am 14.Oktober: 
„Nach Jahren wiederholter Angriffe und Gewalt hatte Israel 2005 sein Militär aus dem Gazastreifen abgezogen und die jüdischen Siedlungen dort geräumt. 

Eine militärische Wiederbesetzung (heute)würde nur weitere Opfer fordern, und das zu einer Zeit, in der Israel noch immer seine Toten zählt. Außerdem würde sie Israels Erzfeind, dem Iran, direkt in die Hände spielen, indem sie einen unvorstellbaren Tribut an palästinensischen Leben fordert. Dies könnte Irans Stellvertreter im Libanon, die Hisbollah, dazu zwingen, in den Konflikt einzugreifen, was die gesamte Region in einen Krieg hineinziehen könnte.“

Thomas Friedman, NYT-Kolumnist:

*Amerika kann Israel langfristig nicht vor den sehr realen Bedrohungen schützen, mit denen es konfrontiert ist,
solange Israel keine Regierung hat, die das Beste und nicht das Schlechteste seiner Gesellschaft widerspiegelt, und solange diese Regierung nicht bereit ist, Kompromisse mit dem Besten und nicht dem Schlechtesten (Hamas) der pal
ästinensischen Gesellschaft zu schließ
en.

Und wir Europäer müssen die Guten und nicht durch Einfrieren unserer Hilfen, die Bösen beim Werk ihres unheilvollen Tuns unterstützen.

*Thomas Friedman(NYT):
America cannot protect Israel in the long run from the very real threats it faces unless Israel has a government that reflects the best, not the worst,
of its society, and unless that government is ready to try to forge compromises
with the best, not the worst, of Palestinian society.

 

* Nachlesen in der New York Times: https://www.nytimes.com/2023/10/10/opinion/israel-hamas-.html?smid=nytcore-ios-share&referringSource=articleShare