UNIVERSALISMUS IN DER LEVANTE
Der Schweizer Alfred Bodenheimer, Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel, hielt am letzten Freitag (10.Mai) zur Antisemitismus-Lesung an der Uni Hamburg einen Vortrag. Seine Ehefrau, Frau Bodenheimer, Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Hamburg, saß als Zuhörende im Saal. Eine Gruppe unterbrach die Lesung und beschimpfte die Bodenheimers z.B.als Kindermörder. Sie griffen dabei Frau Bodenheimer tätlich an.
Solche gegen Israel, israelfreundliche Regierungen, Israel-erklärende Veranstaltungen und auch gegen einfache jüdische Mitbürger gerichtete Aktionen, Demonstrationen und Aggressionen häufen sich seit einigen Monaten in vielen Ländern Europas, in den USA und Kanada in alarmierndem Umfang. Das Fieber scheint die 40° überschritten zu haben.
Mein Versuch, Struktur in diese Aufgeregtheit zu bringen
Die Kriegsführung – ‚ohne Rücksicht auf Verluste’ – der aktuellen extremrechten Regierung Israels wird auch von den Bürgern Israels und den Mainstream-Medien kritisiert. Neuwahlen würden eine neue Regierung ergeben. Egal welche, jede alternative Regierung würde das Sicherheitsbedürfnis als oberste Pflicht befriedigen müssen.
Mein Eindruck: es wird in Israel schärfer kritisiert (z.B.Jerusalem Post, Haaretz, +911) als es beispielsweise in Deutschland möglich zu sein scheint. Die Grenzen zum Antisemitismus sind bei uns, der Nation des Holocausts, enger gezogen. Die Staatsraison hemmt auch staatliche Funktionen.
Für Universalisten, die für Menschenrechte für alle Menschen eintreten, entstehen kognitive Dissonanzen.
Omri Boehm löst eine Dissonanz durch konstruktive Kritik am Abwehrkampf der Israelis. Nicht trotz deutschen Tätertums, „sondern wegen“ (beim Talk mit Precht im November).
Kann man für das Recht der Palästinenser auf ihre Heimat eintreten ohne Juden die Heimstatt zu bestreiten? Boehm würde antworten: „man muß“.
Zunächst müssen wir begreifen, was das Massaker vom 7.Oktober für Juden bedeutet …
und mitdenken, was für Juden der Holocaust, ist für die seit inzwischen 100 Jahren in Libanon, Syrien, Jordanien und Gaza in Flüchtlingslagern „notdauerlagernden“ Palästinenser die Nakba, die Katastrophe.
Die beiden Verbrechen zu vergleichen, ist unsinnig.
Sie sind ausserdimensional und 1000-jährig historisch nicht vergleichbar, dennoch kategorial für den Palästinenser und seine Familie.
Juden sind seit der Entstehung des Christentums die verfolgte Ethnie schlechthin. Dieses Verfolgtsein, durch ständige Pogrome schrecklich und unheilbar tief eingebrannt, ist vererbtes, vererbbares Trauma, mlthin Teil der DNA eines jüdischen Menschen.
Die Märtyrerrolle war kollateral und notgedrungen.
Sich wehren?
Aussichtslos bis vor weniger als 100 Jahren.
Nicht mehr nach dem Holocaust und nicht mehr mit der heutigen Wehrtechnik.
Auschwitzüberlebender Patriarch Zweifler in der 5-Punkte-ARD-Serie(*) „Die Zweifler“:zu seinem Enkell : ‚Ein wehrloser Jude ist ein toter Jude‘.
* Geschichte einer jüdischen Familie im heutigen Frankfurt.
Das Gedicht „In der Stadt des Massakers“von Chaim Nachman Bialik beklagt das Pogrom von Kishinev im zaristischen Russland (heute Chișinău In Moldawien) vom April 1903. Es wurden 49 jüdische Menschen massakriert, Hunderte wurden verletzt.
Bodenheimer in Republik (ein auch für nicht-schweizer Europäer sehr lesenswerter Newsletter)erklärt: „Bialiks Gedicht wurde in erster Linie deshalb so bedeutungsvoll, weil es als energische Absage an die passive Märtyrerrolle verstanden wurde, die seit dem Mittelalter die jüdische Gemeinschaft gekennzeichnet hatte. Es wurde zum Aufruf für die jüdische Jugend jener Zeit, sich zu organisieren und sich zu wehren.“
HAMAS am 07.Oktober – viel mehr als ein Terror-Verbrechen …
… und warum die Ereignisse vom 7. Oktober für die jüdische Gemeinschaft ein unfassbares Trauma bedeuten.
Bodenheimer zitiert aus einem Artikel des israelischen Historikers Yuval Noah Hariri, das Massaker der Hamas habe genau jene Pogrom-Situation in das Staatsgebiet Israels getragen, dessen Verhinderung der eigentliche Existenzzweck des Staates sei.
… und ergänzt in Republik:“Das war nichts weniger als die symbolische Zerstörung des Staates selbst und machte deutlich, dass die Hamas den Begriff der Zerstörung nicht nur politisch, sondern genozidal interpretiert.“ … „from the river to the sea“.
HAMAS, eine Befreiungsbewegung?
Recep Tayyip Erdoğan hat dieser Tage – anlässlich des Besuchs des griechischen Premiers Kyriakos Mitsotakis in Ankara – „an einem wichtigen Punkt“ widersprochen:
„Hamas ist keine Terrororganisation“, nein, es handele sich „um Menschen, die versuchen, ihr Volk zu schützen“
(aus der SZ vom 14.05.)
Ein Irrtum und eine Meinung, die in Amerika, in Europa, in der ganzen Welt, von vielen vertreten wird und zeigt, wie fake, Manipulation oder einfach Ignoranz die Auseinandersetzung global treiben.
Die islamische Weltbevölkerung – wo auch immer – glaubt diesen Irrtum, weil sie ihn glauben will. Die islamische Konfession ist so autoritär wie es die christliche über die Jahrhunderte war.
Die pathologisch-verbrecherische Figur des GAZA-HAMAS-Anführers Yahya Sinwars repräsentiert die HAMAS wie kein anderer.
Ayelet Shani, Ha’aretz-Berichterstatterin interviewte Sinwar:
„I asked Sinwar, is it worth 10.000 Gazans dying? He said, even 100.000 is worth it.„

So bestätigt der GAZA-HAMAS-Führer, daß er die Opfer in der Bevölkerung, deren Schutz Hauptaufgabe der HAMAS ist, bewusst in Kauf nimmt. Sinwars Mission ist Bestandteil des todeskultigen Islamismus. Erdogan irrt also. Es handelt sich nicht um „Menschen, die versuchen, ihr Volk zu schützen“.
(Glaubt Erdogan das selbst?)
Der Mensch ist in der partikularen Ideologie der terroristischen HAMAS also Mittel, nicht – wie im universalistischen Weltbild (Kant!) – Zweck.
Obwohl ohnehin universalistisch geneigt, gestehe ich eine besondere Neigung zu jüdischen Mitmenschen.
Vielleicht eine im Laufe meiner Biografie entwickelte Kongenialität.
Menschen im demokratischen Israel sind mir eben näher …
Die Israelis, mit denen ich in den 80ern arbeitete, hatten genug Gründe, mich Deutschen abzulehnen.
Indes, sie nahmen mich an und manche nahmen mich sogar freundschaftlich auf. Eine Freundschaft konnten wir sogar an unsere Töchter weitergegeben.
Uns verbanden unausgesprochen gleiche Vorstellungen von Gemeinschaft, auch gleiche Musikinteressen, sicher auch kantisch-ethische Vorstellungen und eine agnostische Grundierung.
Unterschiedliche Konfessionen trennten uns nicht.
Vor 40 Jahren beschränkte sich meine eher etwas misstrauische Sicht auf Araber – die ich damals noch nicht ‚Palästinenser‘nannte – als Bemitleidenswerte.
Heute – auch nach einer bereits Ende der 90er Jahre von Al Jazeera ausgestrahlten Dokumentation über jene Nakba – bemühe ich mich „rationalisiert“ noch mehr um eine universalistische Sicht.
Ich will dem kantianisch grundierten Universalismus Boehms folgen.
Dazu gehört, dass ich die in ‚meinem‘ (20.) Jahrhundert verbrieften Menschenrechte der Palästinenser anerkenne und so auch das Unrecht, das ihnen angetan wurde und bis heute angetan wird.
So verfolge ich das aktuelle, meistens blind partikularistische Geschehen in der Levante (nicht nur dort) mit Ingrimm.
An vielen Universitäten der Welt wird ein Versagen der Lehrer offenbar: Haben die Universitäten die Studierenden mehr auf Inhalte – also Kenntnisse – statt auf Wissen geschult? Z.B.auch Geografie, Geschichte?
Gilles Kepel hat im Interview in diesem Monat Mai darauf hingewiesen, dass „Ideologie das Wissen(*) verdrängt“habe, die Debatte so aufgeladen sei, dass Sachargumente nicht mehr zählen. Die Expertise des seit mindestens 30 Jahren hoch angesehenen, arabisch sprechenden Professors und Orientalisten Kepel sei nicht mehr gefragt; nicht von den Studenten, von der Universitätsleitung auch nicht (Kepels Uni ist die Sciences Po in Paris).
Ausführlicher im ARD-Bericht (7 Min.):
www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/videos
à propos ‚Wissen‘: bei den Demonstrierenden auf den US-Campus (plural: campu_us?) wurde bei Befragungen erschreckendes Unwissen festgestellt. Viele wussten nicht, wo Palästina liegt … und was die Geschichte des Landstrichs angeht, beschränkten sich Kenntnisse der Demonstranten auf Ereignisse und Entwicklungen dort höchstens auf die Zeit ab 1947/48 (Gründung Israels, Vertreibung der Palästinenser/NAKBA)…
Positiv ist, dass junge Menschen vom natürlichen Reflex motiviert werden, gerecht sein zu wollen, und gewöhnlich auf der Seite der Schwächeren sind. Das ist ein guter Reflex, der es verdient, manipulationssicher geschützt zu werden.
Die ganz Kleinen agieren natürliche Reflexe aus, wenn sie mit Altersgenossen spielen und Differenzen austragen. Das sind übereinstimmende Erfahrungsberichte aus KITAS.
Kleinkinder sind bei ihrer Geburt Universalisten.

In der Erwachsenenwelt überstehen diese natürlichen Reflexe und Eigenschaften den Druck der von partikularen Erlebnissen ausgeht, nicht immer unbeschadet.
Überall auf der Welt sollten Erwachsene den Kindern helfen, diesen Druck zu überstehen.
Das täte der Welt gut.
Im Übrigen würde geografisches und historisches Wissen die Palästina-Debatten verbessern und politisch relevanter machen.
Und Israel?
Die aktuell exzessiv partikularistische Politik und Kriegsführung Israels scheint auf „eine Niederlage im virtuellen Gerichtssaal der globalen Öffentlichkeit“ (SZ-Kornelius) hinauszulaufen … Kornelius weiter: „So wie die Hamas für den Ausbruch dieses Krieges die Verantwortung trägt, so trägt der israelische Premier die Verantwortung für seinen Verlauf. … und ohne internationale Kontrolle droht in Gaza ein Hamastan zu entstehen.“
Der NYT-Kolumnist Thomas Friedman argumentiert ähnlich und vergleicht das zukünftige Gaza perspektivisch mit Somalia, alternativ – Inşallah – potenziell in ein levantisches Dubai gewendet.
Und die Meinungsforscherin und Politikanalystin Dahlia Scheindlin für Ha’aretz und +972 meint:
„Israelis mögen kein Mitleid mit den Bewohnern des Gazastreifens haben, aber die Mehrheit hat die Bilder der Zerstörung dort gesehen und glaubt, dass der Krieg nicht gut läuft. Netanjahu kann sich über die politischen Trends in den Umfragen dieser Woche freuen, aber diese Ergebnisse sind eine schreckliche Anklage gegen die israelische Führung„.
Ist es möglich, den Palästinensern zur Wiederherstellung ihrer Heimstatt zu verhelfen, ohne das Versprechen (in Verfassungsrang) unserer Republik, die Sicherheit Israels in seinen Grenzen zu verteidigen, zu brechen?
Mit der Resolution 242 des UN-Sicherheitsrats von 1967 wurde dem 1948 gegründeten Staat Israel das Recht bestätigt, in sicheren, auszuhandelnden Grenzen zu leben. Was daraufhin 20 Jahre lang folgte, war der Oslo-Prozess. Der Prozess ist de iure beendet, de facto aber nicht.
Das Täter-Deutschland hat in seiner ganz besonderen Verantwortung gegenüber der Judenheit und dessen Staat Israel die Verteidigung Israels garantiert … und so ein moralisches Gesetz gebrochen. Es ist hier nicht möglich gewesen, einem moralischen Gesetz zu folgen, ohne dem Dritten zu schaden. Oder darf hier das römische Non Tertium Datum gelten?
Nein.
Das ist kein moralisches Gesetz, sondern lediglich ein juristischer Grundsatz. Martin Luther King: „Ein ungerechtes Gesetz ist kein Gesetz„.
Und der Kantianer Omri Boehm:“Ich habe klarzumachen versucht, dass es falsch ist, unmoralische Mittel anzuwenden, um moralische Mittel zu erreichen. Aber jetzt möchte ich fast behaupten, dass es genauso falsch oder noch falscher ist, moralische Mittel anzuwenden, um unmoralische Ziele zu erreichen.“
Ein Fall kognitiver Dissonanz, mit der wir anscheinend unlöslich seit langem leben.
Zur Befreiung von dieser bedrückenden Dissonanz biete ich zum Schluss eine Denkfigur:
Boehms Vorschlag zur Schaffung eines gemeinsamen föderalen Staats soll Ziel (Vorbild ist Boehms Haifa-Modell), die eher realisierbare 2-Staatenlösung als Brücke dahin …