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Notwendige Grenzen staatlicher Souveränität

Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, IStGH, (englisch: International Criminal Court, ICC) Karim Khan erklärt seinen Antrag eines Haftbefehls begründend für die Hamas-Führer Jahia Al-Sinwar, Ismael Hanija, Mohammed Deif sowie für Israel-Premier Binyamin Netanjahu und Verteidigungsminister Yoav Gallant : „Wenn wir nicht unsere Bereitschaft zeigen, das Gesetz gleichmäßig anzuwenden, wenn es also selektiv angewandt wird, schaffen wir die Voraussetzungen für seinen Zusammenbruch.“

Und Kolumnist-Publizist Prantl, selbst ehemals Richter, meint in der Sueddeutschen am 31.Mai, diese Haftbefehle seien der „Versuch einer humanitären Intervention mit den Mitteln des Rechts.“

Prantl weiter: „Netanjahu in seiner Stupidität hat also so reagiert, wie es die Hamas berechnet und gewünscht hatte: Er ist in die Falle der Hamas gerannt, er spielt ihrem Ziel, Israel zu delegitimieren, in die Hände.“

Netanjahu erklärt:“Israelis brauchen keine Haftbefehle um ihre Menschlichkeit zu bewahren.“

Israelis in ihrer Mehrheit sicher nicht, Netanjahu und seine rechtsextremistischen, orthodoxen Koalitionspartner schon.“

Dazu auch aktuell eine Notiz aus Israel

(Ha’aretz): „Dank Netanjahu wird nun die Gleichsetzung von Israel und Hamas durch den Internationalen Strafgerichtshof weltweit angenommen.“

Eine weitere Stimulanz des bereits offen bestehenden und wohl noch mehr latent angelegten Antisemitismus.

Es zeigt sich also einmal mehr der Unterschied zwischen Schläue und KlugheitNetanjahu ist schlau.

Zur Erinnerung: Netanjahu ermöglichte, daß Qatar das HAMAS-Regime in Gaza finanzierte, weil er dadurch – erfolgreich – die Palästinensische Autonomiebehörde im Westbank bis zur Unkenntlichkeit schwächte und dort noch mehr jüdische Besiedlung ermöglichte. Durch eine teilweise Entrechtung der indigenen, palästinensischen Bevölkerung, ihrer Vertreibung aus angestammten Lebensräumen herrschen dort noch mehr Unsicherheit.

Ist das Apartheid und Kolonialismus? Theodor Herzl hätte nichts gegen diese Kennzeichnungen eingewendet. Vor 120 Jahren war Kolonialismus von den Kolonisten-Nationen gewollt und Zeichen nationalen Erfolgs, also – anders als heute – positiv konnotiert. Netanjahu, Israels langjähriger „Mister Security“, ist inzwischen zum „Mister Insecurity“geworden.

Durch den Chefankläger des IStGH (auch: eine Art Weltgercht) steht hier also „das Recht auf der Seite der Opfer von Gewalt„.

Das ist kein Antisemitismus.

Mit diesem Rechtsakt kann die seit 2002 im Dokument(Statut) von Rom von weit über 120 Staaten der Welt anerkannte und völkerrechtlich gedeckte Institution das erste Mal auch den Regierungschef – Netanjahu – und den agierenden Verteidigungsminister – Galant – eines demokratisch verfassten Staates (immerhin inmitten eher undemokratischer Staaten und Gesellschaften) zur Verhaftung ausschreiben. Im ZEIT-Streitgespräch – Ausgabe 24 – mit Jan van Aken hebt der Historiker (und jüdische Israel-Apologet) Michael Wollfsohn die demokratische Verfassung Israels hervor:“Es gibt dort ein funktionierendes Rechtssystem.“

Das mit dem demokratisch verfassten Rechtsstaat hat allerdings auch seine ‚Flecken‘. Das Oberste Gericht Israels hat die meisten (oder alle?) Landnahmen im Westbank „durch gewunken“ beklagt sich Omri Boehm.

 

Die Beantragung der Ausschreibung zu den Verhaftungen, dieser notwendige Akt, entkräftet im Übrigen den Vorwurf der „Blindheit auf nur einem Auge“ der blinden Justitia (blind, um unterschiedslos gerecht zu urteilen): den Vorwurf konnte Putin nutzen, als das Gericht gegen ihn und seine Hintersassen im März 2023 einen Haftbefehl erließen.

Mit den Haftbefehlsanträgen gegen die Protagonisten des Kriegs im Nahen Osten – inklusive des „noch“ demokratischen Israel – erscheint Justitia wieder vollständig blind und gerecht.

Der Antrag des IStGH-Chefanklägers ist nicht nur richtig. Er ist notwendig.

Bestätigende Feststellungen berühmter Juden dazu …

 

Hannah Ahrendt stellt in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess („A Report on the Banality of Evil“) fest, dass das Naziregime in seinem Wunsch, das gesamte jüdische Volk vom Angesicht der Erde verschwinden zu lassen, das ’neue Verbrechen‘ erschaffen hat: das Verbrechen gegen die Menschlichkeit, im Sinne eines Verbrechens ‚gegen den menschlichen Status‚ oder gegen die Natur der Menschheit selbst„. Dieses Verbrechen unterscheide sich von anderen Verbrechen, betonte Ahrendt, denn es sei „ein Angriff auf die menschliche Vielfalt als solche …, ohne die die Worte ‚Menschheit‘ oder ‚Menschlichkeit‘ bedeutungslos wären.“

Das ist universalistisch.

Das radikal Böse, das Nazi-Deutschland verkörperte – „das den Menschen als Menschen überflüssig macht“, erklärte Ahrendt ihrem Mentor und Freund Karl Jaspers – es erfordere die Schaffung einer neuen rechtlichen Kategorie: Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Human Rights Watch Mitbegründer Aryeh Neier,  der als Kind aus Berlin vor den Nazis floh, erklärt Fareed Zakariah in GPS am 26.Mai, warum er zu dem Schluss gekommen ist, dass
Israel in Gaza einen Völkermord begeht.

Aryeh Neier_on_GPS

Und nicht vergessen: Raphael Lemkin ist „Father of the Genocide Treaty“.

Ich erinnere an meinen Lemberg-Blog vom März 2022. Der Auslöser, an der Universität Lembergs das Studienfach zu Rechtswissenschaften zu wechseln, war für Lemkin, das es damals (1915) das  Konzept staatlicher Souveränität war, das es verhinderte, einen Mann wegen seiner Verantwortung für einen Völkermord in einem anderen Land zu verurteilen.

Der Tatort war damals die Türkei und der dort organisierte, damals noch ‚Massenmord‘ genannte Genozid wurde an den bis dahin dort erfolgreich mit den anderen (vor allem türkischen) Ethnien lebenden (christlichen) Armeniern verübt (meine Leseempfehlung : Franz Werfels ‚Die Vierzig Tage des Musa Dagh‘, des Mosesbergs).

Hersch Lauterpacht, der auch in Lemberg Jura studierte, mit der Dissertation „Das völkerrechtliche Mandat in der Satzung des Völkerbundes“abschloß und den Nürnberger Prozessen als Sachverständiger für „Crimes against Humanity“ beiwohnte, darf hier nicht unerwähnt bleiben. Auch er Mitglied einer jüdischen Gemeinschaft.

Ahrendt zu Karl Jaspers nach den Nürnberger Prozessen: „Ich wäre sehr für einen internationalen Gerichtshof mit entsprechenden Befugnissen.“

Netanjahu verweist – wie auch immer wieder Autokraten in vielen Ländern – regelmäßig auf diese staatliche Souveränität und selbst Biden und Blinken respektieren sie offenbar in dieser Situation.

Eine Souveränität, die eigentlich mit der UN-Charta nicht mehr unbedingt ist.

Es ist eigentlich egal, ob es ein Jude oder nicht-jüdischer Pole war, dem wir den Rechtsbegriff Genozid und die eingeschränkte Souveränität der Staaten verdanken. Ebenso egal ist es, dass diese Beiträge zum Völkerrecht oder deren Auslegungen von Menschen jüdischer Gemeinschaften stammen. Es ist aber jetzt besonders erwähnenswert, weil es Israelis sind, die dieses Unrecht begehen.

Natürlich gibt es kluge nicht-jüdische Juristen auch in den exzeptionalistischen USA, die diese Völkerrechte anerkennen und überzeugend begründen.

Zum Beispiel David Kaye.

Er ist Professor der Rechtswissenschaften an der University of California in Irvine.

Kaye meint zum aktuellen Fall, daß die Menschen auf beiden Seiten dieses Konflikts legitime Ansprüche haben und daß das Gesetz dazu da ist, die gesamte Menschheit zu schützen. Er hebt auch hervor, daß

Khan jegliche Formulierung vermeidet, die Israels Legitimität als Staat oder das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung in Frage stellt. Die Verurteilung von Einzelpersonen, die die Macht haben, die Grenzen des Völkerrechts zu mißachten, ist die Mission dieses World Courts (remember Armenia 1915).

Auch Kaye meint, daß Angriffe auf die Anwälte des IStGH wie aus Israel und auch aus den USA* (wie Mike Pence, Ex-VP der Trump-Periode, gerade dieser Tage in Israel) nur denjenigen nützen, die, wie Putin, versuchen, die Existenz dieses Gerichtshofs zu delegitimieren.

Der IStGH ist also noch keine universelle, aber eben doch eine weitreichende Zuständigkeit, die im Römischen Statut konkret festgeschrieben ist.

Die Bush-Regierung zog am 6. Mai sogar effektiv die amerikanische Unterschrift unter den Vertrag zurück.

Der Widerstand der USA steht im scharfen Kontrast zu der Stellung von Amerikas Verbündeten – die fast alle den Gerichtshof unterstützen.

Die USA, die sogar von ihren Verbündeten Garantien der Indemnisierung verlum die Täter ihrer Guantanamo-, Irak- und anderer Tatorte und in den CIA-Spezialgefängnissen zu schützen. Hinzu kommt der für supermächtige Staaten typische Exzeptionalismusreflex,den auch Israel und Russland offenbaren.

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind übrigens eine von nur sieben Nationen (zusammen mit der Russischen Föderation, China, Irak, Libyen, Jemen, Katar und Israel), die 1998 gegen das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH, ICC) stimmten.

Der Gastbeitrag David Kayes in der New York Times vom 20.Mai:

 With I.C.C. Arrest Warrants, Let Justice Take Its Course
David_Kayes_WorldCourt_nyt 

Zusammengefaßt ist es ein Akt globaler Gerechtigkeit und individueller Verantwortlichkeit und ein Zeichen der Anerkennung der Opfer auf beiden Seiten. Ein Zeichen, das den Demonstranten überall zeigt, dass internationale Institutionen immer noch funktionieren und dazu beitragen können, Gerechtigkeit zu schaffen. Sowohl Israelis als auch Palästinenser sind es sich schuldig.

 

Die strafrechtliche Verfolgung von Einzeltätern des Völkermordes ist wahrscheinlich die einzige praktikable Möglichkeit zu bestrafen.

In seiner Fernsehansprache am 28. Oktober 2023, als die israelischen Truppen die Bodeninvasion im Gazastreifen begannen, beschwor Netanjahu Amalek.

In der biblischen Legende befiehlt Gott den Israeliten, sich zu rächen, indem sie jeden einzelnen Amalekiter töten – einen Völkermord begehen.

Wie sollen wir das verstehen? Können wir das verstehen?

Israelis und zwar nicht nur rechtsgerichtete Israelis, sondern die überwältigende Mehrheit der Israelis – haben das Gefühl, dass das Land nach dem 7. Oktober auf eine existenzielle Bedrohung reagiert.

Es kämpft einen unvermeidlichen, notwendigen, einen gerechten Krieg. Das Gefühl der Rechtschaffenheit und die zugrunde liegende Angst sind so groß, dass israelische Beamte wahrscheinlich für ihr Land sprechen, wenn sie sagen:
Wie könnt ihr es Völkermord nennen, wenn er von uns geführt wird?“

Unter dieser düsteren Wolke müssen wir versuchen, es zu verstehen.

P.S.: Artikel im Feuilleton der neuen ZEIT  (Ausgabe 25) über den Dokumentarfilm „Das Drama der Weltjustiz“ – ergänzt den Blog.