„Kein bisschen Frieden“
Klaus von Dohnanyi im ZEIT-Interview (Ausgabe 33/2024 vom 01.08.24)
Herr von Dohnanyi, Aristokrat in aristokratischem Habit, der immer schon damit beeindruckte und – allerdings – wohl auch so manche kontroversen Äußerungen im derartig vornehm gedämpftem Licht erscheinen ließ. Dieses „Dimmen“ wie wohl auch edle Herkunft, Stammbaum der Helden des Widerstands im Dritten Reich und eine bedeutende Laufbahn in Politik und Wirtschaft erlaubt es Herrn von Dohnanyi mit seinen Beiträgen im Hamburger Abendblatt – zu lange – öffentlich zu bleiben.
Es gibt – und gibt sie immer noch – den Erfahrungen zum Trotz, nicht nur in der SPD der Mützenichs und Stegners, Politiker und idealistische Bürger und Demokraten – Weichspüler Putins, die kombiniert mit dem dazu passenden Antiamerikanismus, das revisionistische, neo-imperialistiche Russland für ausreichend verhandlungsbereit halten, um einen völkerrechtmässigen Frieden mit der Ukraine und Europa zu ermöglichen. Dabei geht keiner so weit „ūber Bord“wie Herr von Dohnanyi.
Da ist in der Tat Vieles, was an den USA ausgesetzt werden muss: beginnend mit der mörderischen Verdrängung indigener Gemeinschaften am Anfang ihrer noch jungen Geschichte, dem anmassenden Exzeptionalismus, die immer wieder zynische Machtausübung, diese maßlose Unterstützung Israels, Ablehnung internationaler, in der UNO-Charta institutionalisierter Gerichte, Todesstrafe, public license to kill (Waffenfreiheit), Evangelikalismus …
Das alles finde auch ich abstoßend, inhuman.
Ich ziehe es allerdings vor, von einer doch immerhin weitestgehend demokratisch verfaßten Macht „beschützt“ zu werden.
Es ist bigott, tatsächlich ideologisch begründet, jahrelang möglichst wenig für die Wehrfähigkeit „unserer“Demokratie auszugeben, sich dabei der edlen Friedenspolitik zu rühmen, gleichzeitig aber von den schlimmen Amerikanern und „ihrer“NATO schützen zu lassen.
Ich hatte gehofft, daß nachdem sich einige Leser über Dohnanyis Abendblatt-Beiträge geärgert hatten und vielleicht auch die Redaktion eingesehen haben könnte, daß die freitäglichen Meinungsbeiträge Herrn von Dohnanyis durch konstruktivere, zu unseren tatsächlichen Problemen passende Beiträge ersetzt werden sollten.
… und war fast erschrocken, daß nun ein Dohnanyi-Beitrag in Form eines Interviews in meiner Lieblingszeitung erscheint.
Ich lebe damit, daß die „sozialdemokratische Russland-Nostalgie“ auch nach der Aggression in 2022 nicht untergeht, bin aber über die durch nichts gestützten, fast schon albernen Lästerungen der NATO und die Ablehnung der Unterstützung der Ukraine mit Waffen zornig.
Von Dohnanyi findet es nachvollziehbar, daß Russland die souveräne Ukraine angreift, weil diese Teil Europas werden will, aber eigentlich Teil des russischen Imperiums, mindestens der russischen Interessensphäre, sein sollte. Er findet es offenbar falsch, daß sich die souveräne Ukraine frei für Europa entschieden hat und sich gegen den Angreifer wehrt. Falsch fände er es übrigens auch, wenn wir unseren Nachbarn und Bündnispartner Polen aufgrund unserer „Alle für Einen und Einer für Alle“-Verpflichtung gegen einen Angreifer, z.B., Russland verteidigen würden.
Polen ist auch Europa und“ziemlich“demokratisch.
Wir wollen doch europäisch, nicht länger nationalistisch denken … und handeln.
Oder sind wir selbst noch nicht so weit ?
Alte Männer können auch weise sein.
Ich denke an den großen Europäer Otto von Habsburg, der in 2003, damals auch schon 91, in seiner Bregenzer Rede (*)und drei und vier Jahre später in den „Vorarlberger Nachrichten“ ausdrücklich vor Wladimir Putin und Putins Russland gewarnt hatte: „Leider werden die freien Länder Europas Ihre Politik dereinst teuer bezahlen“ … und … “Wenn Menschen naiv genug sind, ihre Investitionen in Russland anzulegen, fordern sie eine Situation heraus, die für sie am Schluss katastrophal sein wird“.
(*)
https://youtu.be/om2Fl9Y3I2I?si=xwAyV_35XM5s-w9_
Wie sehr hatte von Habsburg recht!
Gegenwärtig fallen auf dem Schlachtfeld ukrainischen Territoriums täglich angreifende Russen und verteidigende Ukrainer. Es muß für die Rußland-Apologeten immer wieder hervorgehoben werden, wer Aggressor ist und wer angegriffen. Gerade jetzt, wenn die ukrainische Abwehr mit modernen F-16-Maschinen aufgerüstet ist. Die schlimmen Ukrainer greifen russische Stützpunkte in Russland an. Die Russen greifen Infrastruktur, Hospitäler, Einkaufszentren, Wohngebiete an.
Wer sich mit der Geschichte Russlands beschäftigt hat (**) und diese interessiert besonders seit 2000 verfolgt, sollte sich keine Hoffnungen auf einigermassen austarierende Verhandlungen mit Russland machen: wir haben gerade eben erlebt, was passiert, wenn man mit dem Geiselnehmer verhandelt: Austausch von Schwerverbrechern gegen Geiseln.
Was also hält einen Putin davon ab, Dausends Kollegen und ZEIT-Korrespondenten Michael Thumann („Revanche“-Autor, wohnt in Moskau) als vermeintlichen Spion de facto in Geiselhaft zu nehmen?
Zum Beispiel, weil es gerade keinen inhaftierten Spion oder Auftragsmörder in einem „westlichen“Gefängnis gibt?
Das ist eine klassische Aporie, denn als universalistischer Humanist und in kantianischer Tradition muss ich, musste auch das politische Deutschland per USA den „deal“ unterstützen.
The Economist kommentiert: „ it … confirmed that the supreme value of individual life still lies at the heart of the West’s power.”
… und dazu die Gegenposition: „ …and watching Mr Putin greet Vadim Krasikov, a convicted murderer, as he stepped off the plane that had brought him from a German prison to Moscow was a confirmation of what lies at the heart of that regime’s system of power and governance.”
Herr „von Dohnanyi und wie er die Welt sieht“ – heute, nach all den Erfahrungen, die wir bis und besonders nach dem 24.Februar 2022 gemacht haben und weiterhin machen, bitte nichts mehr davon, vor allem nicht in Die Zeit.
** z.B.“Der Fluch des Imperiums“von Martin Schulze-Wessel oder Andreas Kappelers „Ungleiche Brüder“ (liest sich wie … „willst du nicht mein Bruder sein, schlag ich dir den Schädel ein“) – ein symptomatischer(!) Titel – , auch persönlicher … „Mann ohne Gesicht“der in Moskau 1967 geborenen Masha Gessens; – sehr umfassend eine Art „Who is Who“ im Post-Gorbatschow-Moskau – eine Art „Nachschlagewerk“Investigations-Journalistin und Financial Times/Washington Post-Rußland-Korrespondentin Catherine Belton’s „Putin’s People“.
… und hier noch ein Beitrag mit Prof.Martin Schulze-Wessel zum Thema Ukraine+Russland:
https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.html?audio_id=dira_DLF_1171b42b
Nachtrag und Leseempfehlung:
Im Interview der heute (08.08.24) erschienenen Ausgabe 34 der ZEIT sagt Wladimir Kara-Mursa:
„Ich weiß, dass die deutsche Bundesregierung sehr viel Kritik einstecken muss für diesen Austausch. Ich verstehe, dass einige Argumente dagegensprechen. Aber für mich ist der wichtigste Unterschied zwischen einer Diktatur und einer Demokratie der, dass in einer Demokratie nichts wichtiger ist als der Wert eines Menschenlebens.“ und … „Oskar Schindler bekam einen Ring von den Juden geschenkt, die er gerettet hatte. Darin waren Worte aus dem Talmud eingraviert: »Wer nur ein einziges Leben rettet, der rettet die ganze Welt.« Nun wurden dank der deutschen Regierung und anderer Länder 16 Menschenleben gerettet. Sind 16 Menschenleben nicht einen Mörder wert?„