Pro-Peace anstatt Pro-Palästina oder Pro-Israel
Bis zum 24.Februar 2022 war ich – mitten im Krieg 1941 geboren – der Meinung, große, imperialistische und Glaubenskriege würde es nur noch in den Geschichtsbüchern geben.
Wie geht es weiter? Wie kann es weitergehen?
Der Palästinenser Bassam Aramin, kritisiert „dieses System der Gehirnwäsche“ in beiden Gesellschaften – der palästinensischen und der israelischen.
Und er erklärt:
„Israel ist 1982 in den Libanon einmarschiert und hat sich die Hisbollah eingehandelt. Es hat die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland zermürbt und so die Hamas gestärkt. Ich weiß nicht, was dieser aktuelle Feldzug auf lange Sicht bewirken wird. Aber ich fürchte, sie wird weder für Israel noch für die Palästinenser gut sein.“
Foto: Palästinenser Bassam Aramin und Israeli Rami Elhanan (Amnesty International Schweiz). Beide haben ihre Töchter im israelisch-palästinensischen Konflikt verloren. Sie haben gemeinsam getrauert und sind Freunde geworden.
Der Erfolgsroman Apeirogon des irischen Schriftstellers Colum McCann ist diesen Beiden gewidmet.

Ist es möglich, mitten im Gemetzel in Israel und Gaza die „Komponenten der Auseinandersetzung“ nicht völlig leidenschaftslos, aber doch rational zu sortieren?
Aramin hat kontextualisiert ohne zu rechtfertigen.
Das geht nicht nur, fordert der Philosophieprofessor Omri Boehm, es muss.
Warum ?
Es muß möglich sein, weil eine Lösung des Konflikts nur nachhaltig sein kann, wenn möglichst umfassend die Konfliktgeschichte, Informationen und Erkenntnisse unter Berücksichtigung widerstreitender und anscheinend inkompatibler Interessenlagen an einer Art „rundem Tisch“dargelegt, sortiert und gewichtet werden.
Und über das Ziel, das sich eine solche Runde vornimmt, gibt es hoffentlich Einigkeit:
… selbst ein „schlechter Frieden ist besser als ein guter Krieg“.
Zweifel, ob es so etwas wie einen „guten Krieg“ gibt, sind berechtigt, jedoch gibt es – in Kenntnis der Geschichte – keinen Zweifel daran, dass wohl alle Friedensschlüsse Ergebnis von Kompromissen sind, also gewöhnlich für einen der Kontrahenten, gemessen am „Kriegsziel“, ein schlechter Frieden sein kann. Das gilt zum Beispiel für diejenigen Israelis, deren Kriegsziel die Einverleibung des Westjordanlands in das Staatsgebiet Israel ist.
Es hat auch Friedensschlüsse gegeben, die als „Diktatfrieden“für eine der Kriegsparteien schlecht (bis vernichtend) waren. Solche Friedensschlüsse führen in der Regel zu Folgekriegen (z.B.der Zweite Weltkrieg als Folge des Ersten, „Great War“genannten Kriegs von 1914-18). Einige Historiker beschreiben die beiden Monsterkriege als Teil 1 und 2.
Ist es naiv, zu glauben, dass dieser aktuelle am 07.Oktober von der Terrororganistation HAMAS mit einer schwer beschreibbaren Barbarei ausgelöste Krieg in Israel-Palästina mit einem fairen Ausgleich, also einem nicht so schlechten Frieden für beide Kombattanten, beendet werden kann?
Es gibt eine Menge kluger Leute, die begründen, dass ein solcher Ausgleich in der komplexen Situation, in der sich nicht nur Palästina und Israel befinden, sondern auch deren unmittelbare Nachbarn Ägypten, Jordanien, Libanon und Syrien und der gesamte Mittlere Osten, realistisch die einzige Lösung ist.
Eine solche Lösung würde auch global eine Beruhigung bewirken können.
Ich denke dabei nicht nur an die Staaten mit sehr großen muslimischen Bevölkerungen (Indonesien, Pakistan …) und das sich zunehmend aggressiv manifestierende islamische Nord- und Sub-Sahara-Afrika. Ich denke eben auch an unsere muslimischen europäischen compatriots (ich wünsche mir schon mein ganzes Leben mehr europäischen und universalistischen Europatriotismus).
In zwei Sendungen (Precht im ZDF im September und SRF-Sternstunde Philosophie im Oktober) und einiger Lektüre habe ich für mich einen „mentalen Ankerplatz“gefunden, einen Ort, an dem Universalismus(*) die zentrale Wirkmacht ist und zwar in der Erkenntnis, dass alle Menschen potenziell die gleiche Veranlagung und auch Kompetenz für Frieden besitzen, also“wesensimmanent“dazu veranlagt sind, Frieden verhandeln können, … allerdings ebenso wie für Mord und Totschlag.
(*) das Antonym dazu=Partikularismus, vertreten durch die Rassisten, Antisemiten, „Religionisten“ …
In der SRF-Sternstunde (der Philosophie) am 28.Oktober spricht der Schweizer Schriftsteller Thomas Meyer über seine Enttäuschung, dass Frieden nach dem Hamas-Massaker eben doch nicht möglich sei.
2) nur hören: https://podcasts.apple.com/de/podcast/sternstunde-philosophie/id1532744254?i=1000632927830

3) hören und sehen: https://www.srf.ch/play/tv/sternstunde-philosophie/video/omri-boehm-laesst-sich-ohne-hass-ueber-nahost-sprechen?urn=urn:srf:video:23277705-7c3e-46c9-92e9-89c21b315714
Warum?
Er sieht „nichts Menschliches mehr“.
Diese Sendung, in der Omri Boehm (in der Region Haifa geboren, Philosophieprofessor aus New York) Gast ist, entstand nach dem Massaker in Kfar Aza.
Boehm ist Universalist und vertritt u.a.die Ansicht, dass die aktuell so umstrittene Kontextualisierung der Verbrechen nicht nur richtig, sondern notwendig ist. Und zwar unter der Bedingung, dass diese Kontextualisierung nicht für die Erklärung der absolut unlegitimierbaren Barbarei der Hamas missbraucht wird; notwendig auch, weil die Ergründung (statt Begründung!) für die Ursachenanalyse und Prävention gebraucht wird (siehe auch wewiter unten: Antinomie der Bedingungen).
Boehms zentrales Anliegen ist der von ihm vertretene Universalismus, in dem auch die allgemeinen Menschenrechte essenziell sind – Boehms einziger sowohl bei Precht als auch im Schweizer Podcast auf deutsch immer wieder zitierte Grundsatz“Die Würde des Menschen ist unantastbar“ rekurriert auf Kant. Boehm spricht und antwortet in beiden Sendungen insgesamt auf englisch. Aber diesen Grundsatz hebt er auf deutsch hervor.
Man kann bezugnehmend auf Meyer nun die Frage stellen, ob diese humanistische Forderung die „subjektiv“ nicht mehr menschlich handelnden Kfar-Aza-Täter einschließt.
Boehm stellt richtig: Die Hamas wird überwiegend als Befreiungsorganisation bezeichnet. In ihrer (antisemitischen, genozidalen) Gründungscharta von 1988 hat die Hamas sich ausdrücklich antisemitsch festgelegt und verfolgt somit völkermörderische Ziele. Das Massaker ist also „der Beweis, dass die Hamas ihre festgelegten Ziele ernst nimmt“. Boehm lehnt es dennoch ab, der Hamas jede Menschlichkeit abzusprechen. Es sei nämlich wichtig zu erkennen, das Menschen zu so etwas fähig sind. Wir schulden uns dieses Wissen, dass es so ist.
Wenige Wochen vor Kfar Aza war Boehm Gast Prechts in dessen gleichnamiger ZDF-Sendung. Zu hören und zu sehen: https://www.zdf.de/gesellschaft/precht/precht-252.html
Boehm betont dort unsere – „uns Deutschen“ – ganz besondere, einzigartige deutsche Verpflichtung, Israel auch an den Stellen zu packen, welche den unbedingten Respekt universeller Rechte fordern, Rechte, die – streng universalistisch – auch Antisemiten, Holocaust-Leugnern und Hamas-Mörder beanspruchen können. Es bedeutet, dass auch diesen Menschenrechtsbrechern die universell zustehenden Menschenrechte zustehen. Die Kriegsverbrecher des Dritten Reichs wurden in Nürnberg von Juristen verteidigt. Das Recht auf Verteidigung war ein ihnen zustehendes Menschenrecht.
Dazu hier Auszüge aus ZDF-Precht am 17.September (!) im Gespräch mit Omri Boehm, Philosophie-Professor in NYC, israelischer Nationalität :
„Wünschen Sie sich, dass Deutschland stärker Stellung bezieht gegen die israelische Identitätspolitik? Wünschen Sie sich, daß wir uns im Namen des Humanismus stärker einmischen und daß Deutschland seine Politik gegenüber Israel verändert?
Trotz seiner Geschichte?“
Boehm antwortet in diesem Wortwechsel auch hier auf deutsch: „nicht trotz, sondern wegen„.

Boehm erläutert: „Die Geschichte Deutschlands und die Erinnerung an den Holocaust sind äußerst wichtig und das sollten sie in diesem Land auch sein.“
Boehm ergänzt und erkennt die Komplexität (Boehm benennt diese begriffliche Spannung „Antinomie zwischen beiden Forderungen“) und das Spannungsfeld zwischen den Forderungen der Humanität, also hier auch zum Bekenntnis Deutschlands zum Recht (Israels) auf den eigenen Staat einerseits und zum Völkerrecht für alle Völker (also auch und besonders Palästinas) andererseits.
Boehm fragt: „Welche Verpflichtungen ergeben sich für Deutschland aus dieser Schuld? Z.B.das Bekenntnis Deutschlands zum Recht der Juden auf ihren Staat.
Das ist moralisch folgerichtig und schwer zu kritisieren. Aber dieses Bekenntnis sollte nicht zu einem goldenen Kalb werden. Das Bekenntnis zum Völkerrecht, zur Würde des Menschen darf nicht bezweifelt werden. Es muß generell und erst recht wegen der deutschen Vergangenheit hochgehalten werden. Hier ergibt sich die Frage, wie man die beiden Forderungen miteinander in Einklang bringen will.
Boehm ist der Meinung, dass Deutschland seiner Geschichte n i c h t gerecht wird, wenn Deutschland Israel nicht mahnt, wenn es um die Beugung des Völkerrechts geht, was Israel in den besetzten Gebieten tut.“
In dem Gespräch beim SRF eine Woche nach dem Siebten Oktober (Kfar Aza) mit Barbara Bleisch und Wolfram Eilenberger hat Boehm nichts anderes vertreten.
Wir Deutsche, wir Europäer werden mit dieser Ermahnung an die Adresse Israels den notwendigen Beitrag leisten müssen, wenn sich Israel mit Palästina an den“runden Tisch“setzt, um Frieden herzustellen und Palästina dabei hilft, eine echte eigene demokratische Staatlichkeit herzustellen.
Die Utopie von zwei guten Nachbarn in Palästina ist Frieden für die Welt.
Die Utopie ist möglich, weil sie notwendig ist.
Die deutsche Farah A.mit palästinensischen Eltern vor ein paar Tagen in der SZ:
„… Du kannst dich mit dem Leid der Juden und dem Leid der Palästinenser solidarisieren, das eine relativiert nicht das andere.“
P.S.: Mit der aktuellen Regierung (inkl.Ben-Gvir, Joel Smotrich, Binyamin Netanyahu), die die Einverleibung des Westbank verfolgt und Siedler, die Palästinenser jagen und erschiessen, straffrei ausgehen lassen, wird das nicht gehen. Dazu und auch zur aktuellen Staatlichkeit Palästinas gibt’s auch noch zu bloggen …
Vor hundert Jahren hat Theodor Herzl gesagt: „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen.“
Es sollte ein Märchen für alle in Palästina werden.
